Rede "Der Europäische Binnenmarkt – Chancen für Mittelstand und Arbeitnehmer"

Sehr geehrter Herr Räde,
sehr geehrter Herr Deppisch,
verehrte Frau Hirsch,
meine Damen und Herren,
vielen Dank für die Einladung.
Ich freue mich sehr darüber, hier in Würzburg über das aktuelle Thema einer offenen Arbeitswelt in Europa sprechen zu können.
Seit 2004 bin ich Mitglied des Europäischen Parlaments für Unterfranken und setze mich als Mitglied im Umwelt-, im Binnenmarkt- sowie im Sozialausschuss  mit den Herausforderungen auseinander, vor die uns der gemeinsame Binnenmarkt auf sozialer und auch umweltpolitischer Ebene stellt.
Europäischer Binnenmarkt
Meine Damen und Herren, Sie als Unternehmer wissen sicher, wie wir in Deutschland als Exportweltmeister vom europäischen Binnenmarkt profitieren.
Der Europäische Binnenmarkt ist eine Erfolgsgeschichte –  es ist der größte Wirtschaftsraum der Welt mit 27 Mitgliedstaaten und rund 490 Millionen Menschen, ohne Zölle, in dem Transaktionskosten sinken und Handelshemmnisse angebaut werden.
Der Binnenmarkt bringt uns arbeitsmarktpolitisch einen großen Mehrwert – jeder sechste deutsche Arbeitsplatz produziert für den Binnenmarkt und hängt damit vom Export ab.
Bayern hat im Jahr 2007 Waren für 96 Milliarden Euro in die anderen EU-Staaten exportiert.
Insbesondere die bayerische Maschinenbau- und die Automobilbranche profitieren vom Export.
In dieser Hinsicht profitieren wir in Deutschland daher enorm und sind nicht nur der Zahlmeister Europas.
Pro Kopf gerechnet sind wir außerdem nicht der größte Nettozahler Europas, sondern Länder wie Luxemburg mit 185 Euro pro Kopf im Jahr, die Niederlande mit 162 und Schweden mit 96 liegen vor Deutschland mit 74 Euro.
Es fließt auch viel Geld in Form von Fördermöglichkeiten wieder zurück.
In der letzten Förderperiode flossen über 60 Mio. Euro nach Unterfranken, in die Wirtschaftsförderung, in die Forschungsförderung, etc.
Am 17.4. um 9.00 Uhr werde ich die Aktualisierung und Bilanz zu meinem Förderleitfaden für Unterfranken in der IHK Schweinfurt vorstellen und möchte Sie dazu gerne einladen.

Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Praxis
Neben dem ungehinderten Transport von Waren, Kapital und Dienstleistungen hat aber auch der freie Personenverkehr immer eine zentrale Rolle bei den Bemühungen der EU gespielt, einen gemeinsamen Markt für alle Mitgliedstaaten zu schaffen.
Die Verträge garantieren jedem Arbeitnehmer Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft – damit einher geht das Recht, in den entsprechenden Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten.
Es ist wahrscheinlich das wichtigste der im Gemeinschaftsrecht verankerten Rechte des Einzelnen, und es ist eine zentrale Komponente des Binnenmarktes und der europäischen Identität.
Eine kleine Vorschrift mit gewaltigen Auswirkungen – jedem Deutschen steht seither ein Arbeitsmarkt zwischen Spanien und Finnland zur Verfügung.
Wir müssen uns der historischen Dimension dieser Möglichkeit bewusst sein.
Nur 20 Jahre nach der Abschottung eines Teiles von Deutschland vom Rest Europas können wir uns nun überall in Europa nicht nur frei bewegen, sondern auch dauerhaft überall frei leben und arbeiten.
Durch den Europäischen Gerichtshof hat die Vorschrift klare Strukturen erhalten.
Der belgische Fußballer Bosman ist mittlerweile über die Fußballkreise hinaus jedem bekannt, der sich mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit auseinandersetzt.
Unabhängig von seinen fußballerischen Fähigkeiten: Für den europarechtlich Interessierten bleibt sein Name unvergessen.
Seit der Klage des belgischen Fußballers sind Restriktionen ausländischer Spieler aus EU-Mitgliedstaaten und Ablösesummen nach Vertragsende bei einem Wechsel zu einem Verein innerhalb der EU tabu.
Der EuGH hat hier wie auch immer wieder klar zum Ausdruck gebracht, dass er sich in alle Arbeitnehmerbereiche einmischt, um die Freizügigkeit zu gewährleisten.  
EU-Osterweiterung und Arbeitnehmerfreizügigkeit
Einschränkungen der Freizügigkeit erfahren jedoch derzeit noch die Arbeitnehmer der neuen Mitgliedstaaten.
Für die beigetretenen mittel- und osteuropäischen Staaten gelten derzeit noch so genannte "Übergangsbestimmungen", die den Aufnahmeverträgen hinzugefügt waren.
Ausgenommen von den Übergangsregeln sind die Beitrittsländer Zypern und Malta.
Die alten Mitgliedstaaten können danach die Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedstaaten für einen Zeitraum von bis zu sieben Jahren einschränken in einem gestaffelten Modell.
Die Mehrheit der Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, entschied sich für eine Zugangsbeschränkung zu ihren Arbeitsmärkten.
Für die Beitrittsstaaten von 2004 läuft die zweite Phase bis zum 30.04.2009. In Bulgarien und Rumänien wird diese am 31.12.2011 auslaufen.
Für die acht Mitgliedstaaten aus der 2004er-Beitrittsrunde muss Deutschland daher entscheiden, ob es in der dritten und letzten Übergangsphase, die bis 2011 läuft, die Beschränkungen weiterhin aufrecht erhält.
2011 wird die vollständige Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU dann gewährleistet werden.
Deutschland hat sich wie unser Nachbarstaat Österreich dafür ausgesprochen, die dritte Phase zu nutzen und die Übergangsvorschriften weiterhin anzuwenden.
Das Bundeskabinett hat entsprechend der Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag und den vorangegangenen Ankündigungen eine Verlängerung der Übergangsregeln beschlossen.
In Deutschland erleiden wird derzeit einen dramatischen Einbruch der Konjunktur mit der Folge steigender Arbeitslosigkeit.
Die Bundesregierung prognostiziert laut Jahreswirtschaftsbericht 2009 eine bundesweite Schrumpfung der gesamtwirtschaftlichen Leistung um 2 ¼-Prozent sowie einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit um 0,6 %-Punkte auf 8,4 %.
Dies würde im Jahresverlauf 2009 einen Anstieg der Arbeitslosigkeit um 500.000 Personen bedeuten.
In Bayern haben wir zwar einen robusten Arbeitsmarkt, aber auch wir erwarten eine schwache Konjunkturlage und daher steigende Arbeitslosenzahlen, einen Anstieg der Kurzarbeit und eine ablehnende Einstellungsbereitschaft.
Insbesondere vor der gegenwärtigen Krise sollten wir zunächst den deutschen Arbeitsmarkt stabilisieren und die Möglichkeit der Übergangsbestimmungen weiterhin nutzen.
2011 werden wir der Öffnung der Arbeitsmärkte gut begegnen können, auch weil die Osterweiterung keine signifikanten Migrationsströme in die alten Mitgliedstaaten hervorgerufen hat, wie anfangs befürchtet wurde.
Seit der Erweiterung von 2004 ist die Zahl der in den alten Mitgliedstaaten neu-ansässigen Staatsangehörigen aus den Staaten der ersten Erweiterungsrunde um rund 1,1 Millionen gestiegen.
2003 lag diese Zahl bei knapp über 900.000, heute sind es rund 2 Millionen.
Wenn sich die Lebensstandards wie auch das Lohnniveau aber immer mehr angleichen, was eine Folge des europäischen Binnenmarkts ist, sehen wir der vollständigen Öffnung 2011 optimistisch entgegen.
Die Reallöhne in den neuen Mitgliedstaaten steigen bereits an – in Polen von 2000 bis 2008 um 19 %, in Tschechien um knapp 50 %.
Chancen der Freizügigkeit in der Zukunft – insbesondere vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels in Deutschland
Unser Arbeitsmarkt muss zusätzlich belebt werden durch die Zuwanderung von Fachkräften und Hochqualifizierten – und zwar möglichst schnell.
Während Deutschland früher als attraktivstes Einwanderungsland galt, hat uns Großbritannien mittlerweile den Rang abgelaufen.
Das Problem des Fachkräftemangels ist ein Phänomen, das uns bereits jetzt trifft und uns Kopfzerbrechen bereitet - in einigen Jahren wird es ein zentrales Problem werden.
Das Handwerk macht seit Jahren darauf aufmerksam, jetzt sind es auch die Universitäten, die Schwund melden.
Im so genannten "Small Business Act", ein Maßnahmeprogramm, das die Kommission initiiert hat und das wir als Europäisches Parlament unterstützen, habe ich als Verfasserin der Stellungnahme für den Sozialausschuss erfolgreich darauf gedrängt, dass wir das Problem beim Namen nennen und mit aufführen und auf Maßahmen drängen.
Wir dringen im "Small Business Act" auch auf Qualifizierungsprogramme für Selbständige wie auch für eine Ausweitung der Erasmus-Programme auf Auszubildende.
Wir setzen jedoch auch auf eine Öffnung des Arbeitsmarktes für Hochqualifizierte – und Deutschland öffnet bereits seine Türen durch deutliche Erleichterungen für den Arbeitsmarktzugang durch die Novellierung des Zuwanderungsgesetzes.
Darüber hinaus schaffen wir neue aufenthaltsrechtliche Perspektiven aufgrund des am 1.1.2009 in Kraft getretenen Arbeitsmigrationssteuerungsgesetzes – um nur einige Beispiele zu nennen.
Neben den Zuwanderern aus anderen EU-Mitgliedstaaten wollen wir jedoch auch die Zuwanderung aus Nicht-EU-Ländern fördern.
Aktuell haben wir im Europäischen Parlament eine Richtlinie verabschiedet zur "Blue Card".
Diese Initiative möchte hochqualifizierte Drittstaatsangehörige in die EU holen und die Arbeitsaufnahme in der EU unter einfachsten Zuwanderungsbedingungen erleichtern.
Im Wettbewerb um die klügsten Köpfe wird die EU nach wie vor nicht als attraktiv von hoch qualifizierten Fachkräften eingestuft.
Während die EU die meisten Arbeitnehmer ohne oder mit geringer Qualifikation aus den Maghreb-Staaten aufgenommen hat (87 %), gehen 55 % der hochqualifizierten Zuwanderer aus den gleichen Staaten in die USA, Kanada oder Australien.
Nur etwas 5 % der hochqualifizierten Migranten kommen in die Europäische Union.
Diese europäische Initiative der Blue Card unterstütze ich und hoffe, dass die formelle Annahme der Position des Rates im Mai bzw. Juni unter tschechischer Präsidentschaft erfolgt.
Europäische Dimension - Europäische Regelungen für den europäischen Arbeitsmarkt
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit, meine Damen und Herren, ist als Grundsfreiheit klar in den Verträgen definiert und gewährt jedem Einzelnen klare Rechte.
Was ist aber mit dem dadurch geschaffenen europäischen Arbeitsmarkt?
Wer regelt diesen? Die EU? Die Mitgliedstaaten?
Nach der Kompetenzverteilung, die die Verträge festlegt, ist es Sache der Mitgliedstaaten, ihre arbeitsrechtlichen Bestimmungen selber zu regeln.
Man möchte jedoch Wettbewerbsverzerrungen verhindern und daher ist die Gemeinschaft verpflichtet, die Sozialpolitik der Mitgliedstaaten zu unterstützen und zu ergänzen und Mindeststandards festzulegen.
Die EU regelt z. B. Fragen der grenzüberschreitenden Unterrichtung und Anhörung und beispielsweise Arbeitszeitregelungen.
Sie konnten beispielsweise in den Medien den Streit um die Arbeitszeitrichtlinie verfolgen.
Es geht hier insbesondere um die Frage nach den Bereitschaftsdienstzeiten.
Die wöchentliche Höchstarbeitszeit regelt die EU. Sie beträgt 48 Stunden.
Wir sind darauf Bereitschaftsdienste anzurechnen?
Die bisherige Richtlinie trifft keine klare Aussage, ob diese der Arbeitszeit oder der Ruhezeit unterfallen oder eine eigenständige Kategorie darstellen.
Der EuGH hat sich zu dieser Frage mehrfach eingeschaltet, nachdem insbesondere Ärzte geklagt hatten.
Jetzt ist der Gesetzeber aufgerufen, hier eine Klarstellung zu treffen.
Die Diskussion um die Arbeitszeitrichtlinie beschäftigt uns im Parlament mittlerweile in zweiter Lesung und seit einigen Wochen im Vermittlungsausschuss.
Erst letzte Woche habe ich an einer Sitzung des Vermittlungsausschusses, dessen stellvertretendes Mitglied ich bin, bis in die frühen Morgenstunden teilgenommen.
Ob wir in dieser Legislaturperiode noch ein Ergebnis erzielen können, ist offen.
Die Positionen zwischen Rat und Parlament sind verhärtet.
Ich setze mich in der anstehenden Diskussion dafür ein, dass wir den Satz "Bereitschaftszeit ist Arbeitszeit" aufnehmen, wobei ich mich auch dafür ausspreche, dass wir die Möglichkeit beibehalten, auf mitgliedstaatlicher Ebene Abweichungen durch tarifvertragliche Regelungen von der wöchentlichen Höchstarbeitszeit zu treffen.
Diese Festlegung sollten wir auf europäischer Ebene treffen, um Rechtsklarheit in ganz Europa zu schaffen.
Zusammenfassung
Im Ergebnis möchte ich noch einmal betonen, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit das wohl wichtigste Recht ist, das Einzelpersonen aus den Gemeinschaftsvorschriften herleiten können. Sie ist ein elementarer Bestandteil der Unionsbürgerschaft.
Wir werden davon in Bayern in der Zukunft profitieren, um dem Fachkräftemangel zu begegnen.
Vorhaben auf europäischer Ebene wie die Blue Card und der Small Business Act unterstützen diese Maßnahmen zusätzlich.

Ich freue mich auf die anstehende Diskussion.